"Erinnerungsorte". Eine Perspektive für die Landesgeschichte?

"Erinnerungsorte". Eine Perspektive für die Landesgeschichte?

Organizer(s)
Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen
Location
digital
Country
Germany
From - Until
11.06.2021 -
Conf. Website
By
Jonas Hübner / Malte de Vries / Peter Wegenschimmel, Abteilung Hannover, Niedersächsisches Landesarchiv

Die Jahrestagung der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen (HiKo) 2021 holte die pandemiebedingt ausgefallene Tagung des Vorjahres virtuell nach. Ihr Thema bezog sich auf ein Erinnerungsorte-Projekt der HiKo, aus dem anlässlich des 75jährigen Landesjubiläums eine Publikation zu 75 niedersächsischen und bremischen Erinnerungsorten entstanden ist.1 Die Tagung sollte ursprünglich der Vorbereitung dieses Buches dienen, wurde allerdings aufgrund ihrer Verschiebung letztlich von der Veröffentlichung überholt.

In der ersten Sektion setzte sich DIETMAR VON REEKEN (Oldenburg) mit mehreren Konzepten der Forschung zum gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte und Vergangenheit, unter anderem mit „Erinnerungsorten“ und „Public History“, auseinander und fragte nach dem Potential des Konzepts der Geschichtskultur für die Landesgeschichte. Als systematische Annäherung an dieses methodisch wie semantisch diffuse Konzept stellte er zunächst unterschiedliche Definitionen und Dimensionen von Geschichtskultur bei Jörn Rüsen und Bernd Schönemann vor. Weniger von einer allgemeinen anthropologischen Fundierung (Rüsen), sondern vielmehr von einer sozialen Konfiguration (Schönemann) des Konzepts ausgehend, betrachtete er anschließend Institutionen, Akteure/Professionen, Medien und Adressaten/Publika der Geschichtskultur in der Landesgeschichte. Von Reeken konstatierte im Ergebnis dieser Betrachtungen, dass zwar zuletzt verstärkt eine landeshistorische Beschäftigung mit Themen wie Erinnerung und Gedächtnis stattgefunden habe, es aber kaum zu einer konkreten Reflexion des Konzepts gekommen sei. In der einschlägigen Forschung gehe es vorrangig um die politische Dimension sowie um klassische Institutionen der Geschichtskultur, während ihre räumliche, narrative und emotionale Dimension sowie ihre Medien, Akteure und Adressaten bislang eher vernachlässigt worden seien. Vor diesem Hintergrund plädierte von Reeken für ein Weiterdenken der Landesgeschichte im Sinne eines selbstreflexiven Forschungsprogramms zur Untersuchung regionaler und lokaler Geschichtskulturen.

Mit Leinen als glokalem Textilerzeugnis der Frühen Neuzeit beschäftigte sich der Vortrag von KLAUS WEBER (Frankfurt an der Oder). Am Beispiel der sogenannten „Ozenbrig Shirts“ (Osnabrücker Hemden), die von vielen Sklaven und anderen Zwangsarbeitern auf den amerikanischen Plantagen getragen wurden, illustrierte Weber, wie das lokale westfälische Leinengewerbe über mächtige globale Waren- und Kapitalströme mit dem Sklavenhandel und der Plantagenökonomie der frühneuzeitlichen See- und Kolonialmächte verflochten war. Als wesentliche Knotenpunkte dieser Verflechtungen identifizierte Weber exemplarisch einige Osnabrücker Leinenhändler wie die Ellermanns, Schröders oder Barings, die mit anderen einflussreichen Kaufmannsfamilien an bedeutenden europäischen Handelsplätzen vielfältig verwandtschaftlich vernetzt waren. Sie organisierten den massenhaften Vertrieb des heimgewerblich erzeugten Leinens von den Leinenleggen in Warendorf, Osnabrück und Bielefeld über niederländische und norddeutsche Hafenstädte auf die atlantischen Märkte. Webers aufschlussreiche Anmerkung, dass das ländliche Leinengewerbe als Hausindustrie keine Industriedenkmäler hinterlassen habe, stellte den einzigen augenscheinlichen Bezug seiner Ausführungen zum Tagungsthema dar. Die sich aufdrängende, durchaus spannende Frage, ob Leinen als wichtigstes deutsches Exportgut des frühen 19. Jahrhunderts einen vergessenen Erinnerungsort der Landesgeschichte darstellt und wie solch ein glokaler Erinnerungsort gegebenenfalls wieder ins Gedächtnis gerufen werden könnte, blieb leider ebenso unbeantwortet wie undiskutiert.

Die zweite Sektion bestand aus zwei Fallstudien zu konkreten Erinnerungsorten, die bei näherer Betrachtung das Konzept auf ihre Weise erweiterten. Wenn JENNY HAGEMANN (Hannover/Cottbus) Gorleben als Erinnerungsort betrachtete, war damit nicht der physische Ort, zwei Kilometer vom oberirdischen Atommülllager entfernt, gemeint. Sie verzichtete deshalb weitgehend auf eine Geschichte des seit 1977 geplanten Zwischenlagers. Im Zentrum ihres Vortrags stand vielmehr die Gegengeschichte, die Geschichte des Protestes gegen die Errichtung eines atomaren Entsorgungszentrums (Stichwort: „Gorleben-Treck“) und seine Musealisierung. Die historische Kulturwissenschaftlerin arbeitete Gorleben als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Transformationsprozesse und kollektives Gedächtnis der Anti-Atom-Bewegung heraus. Mit dieser Intervention machte sie den Diskurs um Erinnerungsorte explizit politisch und damit auch gesellschaftlich verhandelbar. Ihrem Verständnis nach stellte das Beispiel sogar einen Erinnerungsort-Prototypen dar, der vormacht, wie es gelingen könnte, den Auswahlprozess von Erinnerungsorten durch Bürgerpartizipation und Mitgestaltung zu öffnen.

Selbst wenn sich Hagemann im ersten Vortrag der Sektion um eine Demokratisierung des Konzepts der Erinnerungsorte verdient machte, ändert dies wohl nichts an der Tatsache, dass Erinnerungsorte per definitionem Ausnahmen sind, die aus einer Reihe übergangener Orte herausstechen. Das Vergessen ist eine gesellschaftliche Konstante, die in JANA STOKLASAs (Hannover) Vortrag zum Thema wurde. Sie griff einen der potentiellen Erinnerungsorte auf der memorialen Negativkarte Niedersachsens heraus: die Hannoversche Konsumgenossenschaft. 1885 als Haushaltverein Linden gegründet und nach der Eingemeindung in „Hannoverscher Konsumverein“ umbenannt, wuchs der Mitgliederbestand bis 1913 auf 8.280 Personen. Doch die Einrichtung sei heute weitgehend vergessen und ihre erinnerungspolitischen Ressourcen verdeckt. Die Gründe dafür machte die Vortragende in der Instrumentalisierung durch das nationalsozialistische Regime, dem Ausbleiben einer Rekonstitution nach dem Zweiten Weltkrieg, der Veränderung der Konsumgewohnheiten in den 1960er-Jahren und zuletzt in der Diskreditierung des Erbes durch den Coop-Skandal 1988 aus. Die Historikerin argumentierte damit, dass sich aus der Entwicklung der Organisationsgeschichte der Bewegung ableiten lasse, wieso die mit dem Hannoverschen Konsumverein in Verbindung stehenden Erinnerungsorte – wie etwa das ehemalige Verwaltungsgebäude in Laatzen – erkalteten. Die vom amerikanischen Historiker Charles S. Maier übernommene Dichotomie kalter und warmer Erinnerungsorte taugte – wie sich in der nächsten Sektion und der Abschlussdiskussion zeigte – als ein Schlüsselkonzept der Tagung, das die gesellschaftliche Funktion und die historische „Gemachtheit“ von Erinnerungsorten in Erinnerung ruft.

Die dritte Sektion wurde durch einen Vortrag von JÖRN BRINKHUS (Bremen) eröffnet und befasste sich mit dem „Bremer Roland als Erinnerungsort“. Brinkhus stellte zunächst heraus, dass es im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zahlreiche Rolandstatuen in Niedersachsen gab, die als kommunale Freiheits- und Autonomiesymbole fungierten. Einzig der 1404 errichtete Bremer Roland stelle jedoch heute noch einen Erinnerungsort dar. Ursprünglich wollte die Hansestadt mit dem Roland ihre Emanzipation vom Erzbischof verdeutlichen und bezog sich dabei auf angebliche Stadtprivilegien. Überdies wurde dem Roland eine fiktive Vorgeschichte angedichtet, die bis zu den Karolingern zurückreichte. Dieser Mythos wurde in der Frühen Neuzeit weiter ausgebaut, um Bremens Erwerb der Reichsunmittelbarkeit vorzubereiten. Mit dem Ende des Alten Reiches trat im Zuge der Befreiungskriege ein Bedeutungswandel ein, der den Roland vom Autonomiesymbol zum Nationalsymbol werden ließ. Nachfolgend wurde der Roland sowohl im Kaiserreich als auch im „Dritten Reich“ von verschiedenen politischen Gruppen für eigene Zwecke instrumentalisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zwar bisweilen davon gesprochen, dass der Bremer Roland nun jeglichen aktuellen Symbolgehalt verloren habe – dennoch wird er laut Brinkhus von verschiedenen Protestgruppen bis heute als Erinnerungsort und Medium politischer Repräsentation genutzt.

Der letzte Tagungsvortrag von JOCHEN OLTMER (Osnabrück) warf einen abschließenden Blick auf das Erinnerungsorte-Projekt der HiKo. Oltmer fasste darin noch einmal den Entstehungsprozess, die aufgetretenen Schwierigkeiten sowie künftige Herausforderungen des Projekts zusammen. Bereits zwischen 2013 und 2018 wurden den Erinnerungsorten im Arbeitskreis zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts demnach mehrere Sitzungen gewidmet. Die HiKo griff dieses Thema daraufhin mit dem Ziel auf, zum 75-jährigen Landesjubiläum 2021/2022 eine Publikation über die Erinnerungsorte zu erstellen. Darin sollten 75 Erinnerungsorte Niedersachsens und Bremens – zunächst als Buchform, später auch als Website – präsentiert werden. Herausforderungen stellten sich hier insbesondere hinsichtlich der Selbstverständigung auf das Konzept (Auswahl- und Ordnungskriterien) sowie den Arbeitsbegriff („Erinnerungsort“). Zwar wird mit dem Begriff des Erinnerungsorts seit den 1980er- Jahren vielfach gearbeitet, doch sei dieser – so Oltmer – „diffus“ und „uneindeutig“. Die Auswahl der Erinnerungsorte wurde 2015 mittels Delphi-Verfahren unter Beteiligung von 99 Expertinnen und Experten ermittelt und 2019/2020 von einer Initiativgruppe der HiKo ergänzt. Die Schwierigkeiten bei diesem Auswahlverfahren bestanden laut Oltmer vor allem in den Fragen, wie weit die Öffentlichkeit miteinbezogen werden sollte sowie hinsichtlich der Breite des Auswahlprozesses, den Proporzerwägungen (Epochen, Regionen, etc.) und der oft mangelnden reflexiven Perspektive aufgrund kurzer Bearbeitungsfristen.

Die von Oltmer dargelegte Problematik der adäquaten Auswahl von Erinnerungsorten wurde auch in der Abschlussdiskussion aufgegriffen, da neben dem bereits erschienen Erinnerungsorte-Band künftig auch eine entsprechende Website mit weiteren Erinnerungsorten eingerichtet werden soll. Dabei müsse dann jedoch neben der Auswahl der Expertinnen und Experten das „Element der Partizipation“ für die Auswahl neuer Erinnerungsorte stärkere Berücksichtigung finden.

Konferenzübersicht:

Dietmar von Reeken (Oldenburg): Geschichtskultur – ein Konzept mit Potenzial für die Landesgeschichte?

Klaus Wedel (Frankfurt an der Oder): Leinen „glokal“

Jenny Hagemann (Hannover/Cottbus): Erinnerungsort Gorleben. Die Anti-Atombewegung zwischen Historisierung und Aktualität

Jana Stoklasa (Hannover): Konsumgenossenschaft Hannover – ein „erkalteter“ Erinnerungsort?

Jörn Brinkhus (Bremen): Bremer Roland als Erinnerungsort

Jochen Oltmer (Osnabrück): Geschichte und Erinnerung. Das Erinnerungsorteprojekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Henning Steinführer / Gerd Steinwascher (Hrsg.), Geschichte und Erinnerung in Niedersachsen und Bremen. 75 Erinnerungsorte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 314), Göttingen 2021.


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